"Im Herbst, wenn die Bucheckern auf dem Boden unter den großen Bäumen lagen, ging ich oft mit den Großeltern in den Wald. Mit einem alten Kopfkissen zogen wir los und sammelten Bucheckern. Wenn man eine bestimmte Menge gesammelt hatte, konnte man die Bucheckern abgeben und bekam dafür ein kleines Fläschchen Öl, das Oma gut zum Braten gebrauchen konnte. Ich knackte die Bucheckern auf und aß sie. Sie schmeckten wie Nüsse, die es nicht mehr gab. Wir verbrachten viele Stunden im Wald. Es war mühsam, die Bucheckern zu sammeln. Ab und zu machten wir eine Pause, dann gab es eine Scheibe trockenes Brot und dazu eine Tomate. Der Opa blieb oft lange an einen Baum gelehnt sitzen. Er schaute nur geradeaus. Später erst begriff ich. Die Zeit im KZ in Buchenwald und die Enteignung hatten ihn gezeichnet. Er war an Leib und Seele zerbrochen. Von ihm hatte ich gelernt, die Natur wahrzunehmen. "Alles, was sich im Wind bewegt, das kann uns etwas erzählen. Wir müssen nur gut hinhören. Dann hören wir auch die Stimme der Natur. Mit den Menschen ist das auch so. Wenn man ganz fest an jemanden denkt, hört man seine Stimme!" Mein Opa war sehr klug, aber als Kind habe ich seine Worte nicht verstanden. Ich war sehr traurig, als er starb. Am Tag seiner Beerdigung pflückte ich Schneeglöckchen für ihn. Er bekam sie mit auf seine letzte Reise. Mit einem Pferdefuhrwerk wurde er zum Friedhof gebracht. Wir standen in der Trauerhalle vor dem Sarg und alle gaben uns die Hand. Ich mußte schwarze Handschuhe anziehen. "Es gehört sich so," erklärte mir Tante Helga. Nun waren Oma und ich allein. 1948 erhielten wir einen Brief und wurden des Kreises verwiesen. Wir mußten uns mindestens 100 Kilometer weit entfernen. Ehemalige Großgrundbesitzer waren nicht gelitten und mußten weg. Meine Großmutter war 74 Jahre und ich war 10 Jahre alt. Wir packten die Koffer und gingen zurück in mein früheres Elternhaus. Das Gut war inzwischen verpachtet und man überließ uns das frühere Wohnzimmer meiner Eltern und den Rittersaal nebenan.
Wir konnten uns nur im Sommer im Rittersaal aufhalten, da er keinen Ofen hatte. Im Winter schliefen wir im ehemaligen Wohnzimmer. Man teilte uns den kleinen Obstgarten meines verstorbenen Onkels zu. Die Birnen und Pflaumen waren nicht lange haltbar, aber die Äpfel hatten wir den ganzen Winter über. Die Grundnahrungsmittel gab es nach wie vor auf Marken. Wir lebten sehr bescheiden. Oma bekam 50 Mark im Monat. Wenn am Monatsende etwas Geld übrig war, erhielt ich einen Groschen. Davon kaufte ich beim Gastwirt Hillert eine Brause. Es gab nur zwei Sorten, Waldmeister oder Himbeere. Der Gemeindediener, den alle nur "Die Bekanntmachung" nannten, hatte eine riesige Glocke, mit der er die Menschen auf dem Dorfplatz zusammentrommelte. "Bekanntmachung!" war immer sein erstes Wort. Mal gab es Bezugsscheine für Schuhe, mal mußten sich die Kinder zum Kartoffelkäfersammeln einfinden. Einmal gab es eine Zuteilung von 10 Briketts pro Person. Wir stapelten die Briketts am Fenster im Rittersaal und hüteten sie wie Brillanten. Sie wurden nur verfeuert, wenn es gar nicht mehr anders ging. Ab und zu brauchte ich neue Kleidung. Aus einem karierten Bettbezug wurde ein Kleid für mich genäht, aus alten Livreen eine rote Jacke. Kleid und Jacke passten gut zusammen, wobei das damals keine Rolle spielte. Hauptsache, man hatte etwas anzuziehen.
1952 wurde ich ausgewählt, um an einem Pioniertreffen in Dresden teilzunehmen. Es wurden nur Kinder mit guten Schulnoten ausgewählt. So war ich dabei und ganz stolz darauf. Jeden Morgen mußten wir antreten. Es hieß, Stalin wäre unser Vater und würde für uns sorgen. Wir mußten zu allem Ja und Amen sagen. Man durfte nie etwas in Frage stellen. Wir bekamen soviel und so reichlich zu essen, daß ich sogar eine dicke, nicht angeschnittene Salami mit nach Hause nehmen konnte. Die Bevölkerung in Dresden hungerte zu dieser Zeit, aber wir bekamen alles. Ich fand das traurig und schrieb einen Brief an den Genossen Stalin, in dem ich ihn bat, dafür zu sorgen, daß auch die anderen Menschen genug zu essen hätten. Ich schrieb auf den Briefumschlag: An Stalin, Moskau im Kreml und warf den Brief in den Postkasten. Meine Schwester fischte ihn wieder heraus und verhinderte, daß er abgeschickt wurde. Vielleicht hat sie mir damit das Leben gerettet, denn für einige Formulierungen hätte ich ins Gefängnis kommen können.
1952 war das Jahr meiner Konfirmation. Ich brauchte Stoff für ein Kleid. Mein Vater brachte eines Tages eine kleine Schachtel mit Seidenraupen darin: "Von diesen Raupen bekommst Du Dein Kleid. Du musst sie nur täglich mit Maulbeerblättern füttern!" Wir hatten viele Maulbeerbäume auf dem Grundstück. Ich fütterte die Raupen, die immer hungriger wurden. Am Anfang reichten ein paar Blättchen, zum Schluß sägte ich riesige Äste für sie ab. Die Raupen bevölkerten einen ganzen Raum, spannen sich ein und so entstanden die Kokons, die wir einsammelten und wegschickten. Nach ein paar Wochen erhielten wir ein Paket mit Stoff, reine Seide in Weiß. Ich erhielt also ein weißes Kleid zur Konfirmation, worüber ich nicht besonders glücklich war, denn alle anderen trugen schwarz. Aber es gab nunmal keine Farbe zum Färben.
Einige Zeit später erhielt mein Vater einen Brief, der uns zeigte, daß wir unsere Flucht vorbereiten mußten. Wir konnten nicht gemeinsam fliehen, sondern mußten jeder einzeln unauffällig fliehen: "Ihr dürft nur das, was Ihr anhabt, mitnehmen," sagte mein Vater."Zieht alles doppelt und dreifach an. Kein Gepäck, kein Koffer, kein Täschchen, nichts." Ich hatte einen Hund namens Bürschel und er stand da und schaute mir nach. Ich sehe ihn heute noch dort stehen und konnte ihn nicht mitnehmen. Wir fuhren nach Teltow und dann weiter mit der S-Bahn. Damals konnte man noch mit der S-Bahn in den Westen fahren. Es hieß "Letzte Station Ost!", aber wir fuhren einfach weiter. Zuerst kamen wir ins Flüchtlingslager nach Marienfelde, wo wir gut versorgt wurden. Dann wurden wir mit amerikanischen Flugzeugen nach Hamburg-Wentdorf ausgeflogen, dem damals größten Flüchtlingslager in Europa. Konrad Adenauer besuchte uns und sprach uns Mut zu: "Es wird schon werden," sagte er. "Wir helfen Euch!" Ich war im Westen angelangt, die Flucht war geglückt und es begann ein neues Leben."
Auszug aus den Lebenserinnerungen von Frau S. Weinheim, aufgeschrieben nach einem Bericht der Zeitzeugin, Fotos, Dokumente, Briefe und Material aus Archiven wurden in den Text eingefügt.